Wie es zu einer Bahn von Winkeln nach Herisau kam

Die Industrie will Anschluss an das Bahnnetz

Um 1850, als die Diskussion um die Streckenführung einer zu bauenden Eisenbahn aus Richtung Zürich nach St. Gallen richtig heftig tobte, war Herisau nach St. Gallen bezogen auf die Einwohnerzahl die zweitgrösste Ortschaft der gesamten Ostschweiz und bereits ein wichtiger Standort der Textil-Industrie. Ein erheblicher Teil dieser Diskussionen befasste sich deshalb mit der Frage der Erschliessung von Herisau. Auch im Namen der bauenden Bahngesellschaft fand diese Bedeutung ihren Niederschlag: „St. Gallisch-Appenzellische Eisenbahngesellschaft“ SGAE.

Die topografischen Schwierigkeiten – Herisau liegt über 100 m höher als Gossau und St. Gallen – führten schliesslich dazu, dass die Streckenführung der SGAE über Gossau – Winkeln nach St. Gallen gewählt wurde. Als Bahnhof für Herisau diente derjenige des damals unbedeutenden Ortes Winkeln, der den Namen „Winkeln (Herisau)“ erhielt und Schnellzugshalt war.
 
So hatte also Herisau mit der Inbetriebnahme der Strecke Winterthur – St. Gallen am 15. Februar 1856 „seinen“ Bahnhof erhalten, 3,4 km Wegstrecke mit 122 m Höhendifferenz vom Ortszentrum entfernt. Dieser Zustand konnte verständlicherweise nicht befrie-digen, und der Gedanke an eine normalspuri­ge Stichbahn blieb präsent. 1868 wurde es konkreter: Auf Vorschlag der VSB bildete der Gemeinderat Herisau eine Kom-mission. In Aus­sicht genommen wurde eine Bahn nach System Wetli, aber auch mit N. Riggenbach war Kontakt aufgenommen worden, um sein damals noch nirgends verwirklichtes Zahnstan­gensystem kennen zu lernen. Dieser Kontakt gipfelte in einer gemeinsamen Exkursion zur (alten) Mont Cenis-Bahn, bei welcher das Problem der Überwindung grosser Steigungen bekanntlich mit einer zusätzlichen Reibschiene nach dem System Fell gelöst worden war.

Gossau kommt ins Spiel

Inzwischen wurde das Projekt der Bischofszeller Bahn Sulgen – Gossau konkret und in Herisau entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Befürwortern eines Anschlusses in Winkeln, die durchaus zu Recht darauf hinwiesen, dass der Verkehr nach St. Gallen etwa 90 % des Aufkommens ausmachen würde, und Befürwortern eines Anschlusses in Gossau, die dort bessere Anschlüsse Richtung Zürich und Bischofszell – Thurgau sahen.

Doch Schmalspur - weil andere die Bahn bauen

Kurz zuvor, am 30. August 1872 hatten aber „namhafte Eisenbahnfreunde“ in Herisau eine Privateisenbahngesellschaft gegründet, um eine normalspurige Strecke nach Winkeln zu bauen. Und nun trat Bundesrat Jakob Dubs auf den Plan: Dieser hatte die Vision, in der Schweiz ein Netz von „Vicinalbahnen“ zur Erschliessung von nicht an das Hauptbahnnetz angeschlossenen Regionen zu schaffen. Er schlug den Verfechtern der Winkler Strecke vor, eine solche „Vicinalbahn“ von Winkeln über Herisau – Urnäsch nach Appenzell zu bauen. Erneut erhitzten Forderungen nach Varianten der Streckenführung und nach weiteren Strecken die Gemüter, und aus Kostengründen kam die Frage der zu wählenden Spurweite ins Spiel. Am 30. März 1873 stimmten die Herisauer an einer Urnenabstimmung über die beiden Varianten – Normalspurbahn nach Gossau oder Schmalspurbahn nach Winkeln – ab. Das Ergebnis war sehr knapp: 1120 Stimmen für Schmalspurbahn nach Winkeln, 1009 für Normalspur nach Gossau.